Wo waren sie, die Anfänger, als Jörg, Jochen und ich diesen Sommer durch den Ruhrpott ruderten? Wir hätten uns über drei Mitstreiterinnen oder Mitstreiter gefreut. Der Rhythmus aus einem Ruder- und einem Ruhetag war extra darauf ausgelegt. Und die Städte zwischen Dortmund und Duisburg boten genügend Interessantes, dass niemand sich langweilte.
Unsere Wanderfahrt folgt der Emscher. Also nicht dem Fluss selbst, denn der ist auf weiten Teil ein schmale Abflussrinne im Betonbett. Er wird aber vom Dortmund-Ems- und dem Rhein-Herne-Kanal begleitet, und wenn man die Mühlen der Bürokratie in Bewegung gesetzt hat, erhält man eine Sondergenehmigung, sich von den ach so gefährlichen Schleusen dieser Wasserstraßen schleusen zu lassen.
Doch bevor alles losgeht, geht es erst in den Dortmunder Hafen. Ein schon recht großer Hafen mit mehreren Becken, bemerkenswert vor allem, weil es vor dem Kanal in Dortmund keinen Hafen gab. Dortmund lag am Hellweg, nicht am Wasser. Hier werden Stahl in Rollen produziert und verschifft, und Jörg als unser Ruhrpottler zeigte uns, wo er seine Ausbildungsjahre verbracht hatte. Stahl und Kohle spielen keine Rolle mehr und nur das Bier hat überlebt. Am Dortmunder U, wo es vorher gebraut, versucht sich jetzt eine Kunstszene an open air in Liegestühlen. Von der Dachterrasse aus sieht man weiter draußen die Kokerei Hansa. Einst spuckte sie ihren Feinstaub über Dortmund aus, heute erfreut man sich an der Ästhetik des Verfalls dieser Anlage. Sie ist Teil der Industrieroute der Kultur, die das industrielle Erbe des Ruhrpotts zu einem Freilichtmuseum macht. Denn nur durch Kohle und Stahl wurde aus fruchtbarem Ackerland, Mooren, Bauerndörfern und Kleinstädten ein merkwürdiges Gebilde aus Industrie, Werksiedlungen, Eisenbahnen, Autobahnen, Schrebergärten, geduldeten Badeplätzen und vielen Grünanlagen. Eine Großstadt schwappt in die nächste ohne klare Grenzziehung aber auch ohne wirkliches Zentrum über siebzig Kilometer hinweg: ein Gewirr aus Geologie, Zufall und Betriebswirtschaftslehre.
Vom Dortmund-Ems-Kanal können wir tief hinunter ins Land schauen. Nach dem Bergbau ist die Gegend um bis zu zwanzig Meter abgesackt. Überraschend ländlich ziehen sich Pappelreihen längs - bis Henrichenburg. Dort muss der gewaltige Höhenunterschied ausgeglichen werden. Ein uraltes filigranes Stahlbalkenungeheuer, ein Schiffshebewerk, liegt still und kann berücksichtigt werden. Eine tiefe Schachtschleuse daneben ist zur Umtragestelle umgebaut. Das moderne Betonschiffshebewerk auch schon stillgelegt, weil nicht mehr lang genug für die modernen Rheinschiffe. Eine Hebewerk wäre am angenehmsten zu schleusen: man führe in eine Badewanne hinein, und die Badewanne würde in einem Schrägaufzug langsam abgelassen. Stattdessen fahren wir durch Deutschlands tiefste Schachtschleuse: fünfzehn schwindelige Meter geht der Blick die engen Betonwände hoch, als wir dreißigtausend Kubikmeter Wasser weiter unten angekommen sind.
Herne, wo wir in einem Verein untergebracht sind, der das Kunststück fertiggebracht hat, die Interessen von Ruderern und Motorbootfahrern gütlich zusammenzubringen, ist so eine Stadt, die niemand besuchte. Zu Unrecht, denn hier gibt es viel Ex- und Post-Ruhrpott zu besichtigen: das Elektrizitätsumspannwerk Recklinghausen mit einer Ausstellung zum Strom samt einem vergnüglichen, einfältig-optimistischen Buch aus den Fünfzigern, das "Das lustige Atom" heißt. Die Bergbaukolonie Teutonia, biedere, wohnliche Gärten mit sorgfältig gestutztem Rasen im Schatten eines Bergwerksförderturms. Mont-Cenis, ein Bildungs- und Freizeitglaskasten anstelle eines Bergwerkes, das wegen der Coronozahlen geschlossen. Alexandra ist hier mit von der Partie; hinterhergereist begleitet sie uns per Fahrrad und ÖPNV, übernachtet mit uns in den Bootshäusern. Diese Möglichkeit bieten Anfängerwanderfahrten möglichst auch, wenn man sich nicht zwischen der Wanderfahrt und dem Partner entscheiden will.
Wir rudern nach Crange zur größten Kirmes des Ruhrpotts. Der ganze Stadtteil samt dem Ruderverein wird hierfür abgesperrt, die bunten Neonlichter blinken und glitzern in die Nacht, Johlen und Diskomusik wabert aus den Budengassen, und Schreie fallen aus den Freifalltürmen. Gelsenkirchen liegt um die Ecke und hier gibt es die Halde Rheinelbe: ein großer Abraumberg eines zum Park verwilderten Bergwerkes. Unten Wald, wird sie oben immer kahler, mit Schilfteichen auf halber Höhe und wirr aufeinandergestapeltem Stahlbetonbrocken auf dem Gipfel. Sie sollen an die Vergänglichkeit des menschlichen Wirtschaftens erinnern, sind sie doch aus dem Bergwerk Rheinelbe herausgeschlagen, als dieses mangels Kohle entsorgt wurde. Die Aussicht grandios: Zu unseren Füßen trainiert die Sportgemeinschaft Wattenscheid Fußball; was waren das für Zeiten, als der Verein in der Ersten Bundesliga die ganze Saison über grottig spielte um dann haushoch den FC Bayern München in den jeweils zwei Spielen zu besiegen. Am Horizont die Hochhausskyline Essens vor den Wiesen und Bergen des Bergischen Landes. Dort waren wir sechs Jahre zuvor mit Anfängern auf der Ruhr gerudert. Nach Westen glitzert auf einer anderen Halde die Pyramide des Tetraeders von Bottrop golden hinter dem schimmernden Schornsteinrauch übrig gebliebener Großindustrie.
Gelsenkirchen hat eine Fußgängerzone, wo wir türkisch zu Abend essen. Jedes Ruhrpottzentrum hat seine eigene, in der Nachkriegsarchitektur unterschiedlichster Stile, manchmal sogar noch älter, was da die Bomben haben stehen lassen, aufeinanderstößt - manchmal etwas ratlos, aber es gibt kein Geld die Aufbruchstimmung der Gastarbeiterjahre neu zu ordnen. Aber das passt zu einem Landstrich, der in provisorischer Hast industrialisiert worden ist. Hinter jeder Ecke kann etwas Überraschendes passieren, aber irgendwie halten sich diese lässige Planlosigkeit in einem erwartbaren Rahmen. Hinter Schalke hat das große Geld ein Stadion errichtet, während in Horst an der Emscher die Straßenbahn erst noch neben einer Spielhalle und einem Pizzaservice anhalten musste, um im Schritttempo sich über ein niveaugleiches Quergleis einer Regionalbahn zu einem Dreischienengleis voranzuschütteln, weil die Nachbarstadt für ihre Straßenbahn eine andere Spurweite gewählt hat.
Das Ruhrgebiet will modern sein und hat deswegen Stahl und Kohle gegen einen Landschaftspark getauscht. Diese IBA Essen/Ruhr versucht dem, was übrig geblieben, ein Gesicht und damit Identifikation zu geben. Zunächst einmal behindern Kanäle den direkten Verkehr von Fahrradfahrern und Fußgängern. Baut man ihnen aber Querungshilfen, dürfen das nicht irgendwelche sein, sondern individuell gestaltete. Am Gelsenkirchener Zoo schwingt sich der Radweg in einer Kurve über unsere Wasserstraße. Aufgehängt an schrägen Pylonen, wie sie auf der Weltausstellung in Sevilla en vogue waren. Oder zwei rote, asymmetrische Rohrbögen im Emschertalpark, scheinbar ohne Bezug zueinander und doch ineinander verwoben, dass dazwischen ein weiterer Radweg hat aufgehängt werden können.
Wir rudern weiter nach Oberhausen. Weil wir wegen eines Bootshausabrisses und -neubaues haben umdisponieren müssen, werden es dreißig Tageskilometer. Der Verkehr hält sich in Grenzen, gerade einmal so sehr, dass man nicht gänzlich die gemächliche Berufsschifffahrt und übermotorisierte, nervige Freizeitkapitäne vergisst. Zwischen Fachwerkstahlbrücken und Betonspundwänden bugsiere ich uns an den vergitterten Steg eines verlassenen Rudervereines, damit wir uns von der Augusthitze ausruhen. Jochen rudert nach der Weisheit arabischer Wüstenbewohner im Teletubbyganzkörperanzug und kann trotzdem nicht umhin, alle Naselang seine Mütze komplett unterzutauchen. Noch während das Wasser ihm aus der Mütze das Gesicht hinunter trieft und einen Hauch Kühle verspricht, verdampft es bereits. Wir könnten gerade auch im Hamburger Hafen stehen, wenn die Landschaft nicht so grün wäre.
Oberhausen rühmte sich in US-amerikanischem Tempo vom Dorf zur Großstadt geworden zu sein. Vom einstigen Gasometer schaute man auf ein unentwirrbares Gewirr von Schornsteinen Hochöfen und Gleisen. Jetzt steht hier Deutschlands erste Shopping Mall, das CentrO, genauso von amerikanischen Ausmaßen: Freizeit, Shoppen, Fressmeilen, japanische Wasserlandschaften. Und im Eck Eisenheim, die älteste Bergarbeitersiedlung. Ist Teutoburgia von der schicken Modernität einer verputzten Gartenstadt, so stehen hinter den nackten, dunkelrotbraunen, niederrheinischen Backsteinhäuschen immer noch die Eigenbedarfsschweineställe im Garten.
In Oberhausen will man uns nicht schleusen. Trotz Genehmigung. In irgendeinem Spiegelstrich steht, dass die nur gilt, wo eine Doppelkammerschleuse vorhanden. Leider sei die zweite Kammer gerade wegen Ausbauarbeiten gesperrt, also quasi nicht vorhanden. Telefonanrufe die Befehlskette rauf und runter. Schließlich stolpert der Schleusenwärter über seine Logik, als ich ihm sage, dass wir in Wanne-Eickel auch geschleust worden seien. Dort ist nach der Ertüchtigung der einen Schleusenkammer die zweite einfach stillgelegt worden. In Oberhausen geschleust zu werden ist letztlich nicht gefährlicher als in Geesthacht. Aber nicht umsonst ist die Wasserstraßenverwaltung im Ruhrpott berühmt in Wanderruderkreisen und sicherlich ein Grund, warum die Rudervereine im Emschertal nur alle fünf Jahre Wanderruderer als Gäste willkommen heißen können.
In Duisburg gewinnen wir aber aufgrund der Umständlichkeit dieser Verwaltung. Seit ewig ist dort die Ruhrschleuse in Reparatur. Die, auf der wir einigermaßen umständlich auf unserer Ruhrfahrt Zweitausendsechzehn umtragen mussten. Mit meiner Genehmigung ist die Schleusung dort nicht möglich. Dafür dürfen wir, wenn auch nach einer Stunde Wartezeit durch die Kanalschleuse rudern. Direkt hinein in Kommissar Schimanskis Tatort, den Ruhrorter Hafen, den größten Binnenhafen der Welt. Vorbei an alter Industrie, Stück- und vor allem Schüttguthäfen. und alten Kränen und gemauerten Kaianlagen. Ein Hafenbecken wird gerade komplett neu gepfählt, denn auch hier fordert die Grobschlächtigkeit eines neuen Containerhafens ihren Tribut. Das ist pittoresk aber nicht gefährlich. Trotzdem aber ein Tabu für die Verwaltung. Normalerweise. Ewig schlängelt sich der Hafen direkt parallel zur Ruhrmündung in den Rhein.
Wegen der Trockenheit hat der so wenig Wasser, dass die Schiffe nur noch mit verminderter Fahrt eines hinter dem anderen peinlich genau sich an die Fahrrinne halten müssen. Schnell setzten wir über in die Innenkurve und haben dann auch schon unser Ziel den Homberger Ruderclub Germania erreicht. Wieder ist es der Germanen-Harald, der uns in Empfang nimmt. Alles so entspannt wie beim letzten Mal auf unserer Ruhrfahrt, nur dass wir alle sechs Jahre älter geworden sind.
Also: Das nächste Mal im Ruhrpott seid auch ihr Anfänger dabei. Das müsst ihr mir versprechen.
André Gesche
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