Was haben Altona an der Elbe, Friedrichstadt an der Eider und Friedericia am Kleinen Belt miteinander gemein? Sie alle sind dänische Freistädte, Städte, in denen man frei von Zunftbeschränkungen ein Gewerbe errichten konnte und reformiert, katholisch oder jüdisch sein konnte, obwohl der dänische Gesamtstaat eine lutherische Staatskirche hatte, und wo man deutsch, niederländisch oder auch französisch sprechen durfte. Der jüngste deutschsprachige Grabstein in Friedericia datierte von neunzehnhundertfünfundsechzig, die französischen waren noch jünger.
In Friedericia startete unsere Koldingfahrt. Warum nicht in Kolding? Nun, nur weil ein Verein Inrigger für eine Wanderfahrt auf der Ostsee hat, heißt das noch nicht, dass er uns auch Boote ausleihen kann. In Friedericia, der Nachbarstadt, wurden wir doch noch fündig. Sie gehört zum Dänischen Städtedreieck, nach Kopenhagen der wohlhabendste Teil des ohnehin hyggelig-reichen Landes. Hier stoßen Fünen und Jütland so nah aufeinander, dass die Ostsee den Charakter eines breiten Flusses annimmt. Erst kommt der große Hafen, dann die das weite Belttal beherrschende Hängeseilbrücke der Autobahn nach Kopenhagen, die Eisenbahnbrücke von Mittelfart, mit welcher Dänemark in den Dreißigern des zwanzigsten Jahrhunderts sein Infrastrukturprogramm begonnen hat, die Fähren dieses Inselstaates durch Brücken zu ersetzen. Jochen, Holger und ich mussten ziemlich ackern, denn sowohl die Tide als auch der Wind kamen uns aus dem Süden entgegen. Hinter der Eisenbahnbrücke wurde die Landschaft grüner, Wälder, Steilküsten, Pendlerdörfer und Villen mit Wasserblick auf den Höhen und ähnelte den berlinschen Seenplatten. Es wäre schön gewesen, wenn wir noch ein zweites Boot hätten besetzen können. Die Tour war extra konzipiert als Einstiegsfahrt ins Meeres- und Riemenrudern im Inrigger. Immerhin kommt man mit diesen Booten noch durch, wo E-Gigs längst vollgelaufen wären. Im Windschatten der Steilküste war noch alles in Ordnung, doch dann öffnete sich die Koldinger Förde stracks nach Westen. Wir tanzten in den Wellen, der Himmel drohte schwarz, bis wir endlich am Südufer wieder aus dem Wind kamen, aber auch dort nicht so richtig, denn Untiefen und Fischernetze zwangen uns zu reichlich Abstand.
Wenn dir das Wetter in Dänemark missfällt, warte einfach zwanzig Minuten! Bei Sonne und ruhigem Wasser liefen wir den Steg des Koldinger Rudervereins an, und wurden aufs herzlichste empfangen. In dem einen Bootshaus waren wir sofort auf ein dänisches deftiges Abendbrotbuffet eingeladen, im anderen konnten wir ungestört schlafen. Das lag daran, dass gerade erst der Damen- und der Herrenverein fusioniert waren, also prinzipiell ein Bootshaus zu viel da war.
Nicht weit vom Bootshaus der Hafen. Die Stadt kletterte hier den Berg hinauf mit einem Königsschloss weiter oben. Küstenmotorschiffe wurden hier gelöscht, Stückgut, das in historische Hochspeicher verbracht wurde. Alles so gemächlich, dass man gefahrlos dazwischen umherrudern konnte. Am zweiten Tag wollten wir nach Fünen. Also wieder die Koldinger Förde, doch diesmal bei ruhigem Wasser noch tiefer hinein in ihre Verästelungen durch grün schwellendes Teletubbyland, rund um das Inselchen Kedholm. Kedholm hieß auch unser Boot und so mussten wir ihm eine Ehrenrunde erweisen. Ein großes Kraftwerk baute sich nach allen Seiten weit in die Aussicht hinein, die kohlenschwarze Halde davor war jetzt braun. Dänemark gefiel sich in seiner Umweltfreundlichkeit. Die Pellets kamen aus Rumänien, wo gerade die Karpaten für unser grünes Gewissen abgeholzt wurden. So viele Holzabfälle fielen gar nicht an, wie Strom für ein wohlständisches, hyggeliges Leben benötigt wurden.
Zurück in den Kleinen Belt über Fänös Kalv und Fänö. Nein, nicht Fanö - dort auf der Nordsee waren wir kurz zu zuvor gewesen - sondern Fänö in der Ostsee. Silbrig in der Sonne glitzernde Wellen, dunkle Wälder, weite, fruchtbare, stille Äcker, Bauerndörfer mit hochgebockten Fischerbooten. Seehunde jagten nach Fisch in die Gamborger Förde. Wie ein Finger zeigte Fünen hier auf das nahe Festland, die kürzeste Distanz auf dem Wasser, führte hier einst die Poststraße von Jütland nach der dänischen Hauptstadt entlang. Deswegen steht in Föns auf einer anmutigen Anhöhe die älteste Kirche Fünens. Ihr weißer, gedrungen-quadratischer Turm dient uns als Zielmarke. Dann aber setzte die Fähre weiter oben, wo jetzt die Hängebrücke steht, über, und Föns schaffte es nie wieder aus der Bedeutungslosigkeit heraus. Im verschilften Flachwasser hatte der Fönser Seesportverein eine bescheidene Heimat gefunden. Zäh und heimatverbunden mit Unterstützung der Landgemeinde war unlängst ein Wassersportverein gegründet worden. In Deutschland kämpfen viele Vereine auf dem Land ums Überleben; hier aber verstand man, dass kleine Vereine vor Ort statt weniger Großvereine in den Städten die Peripherie vor der Entleerung schützen. Ein hagerer, älterer Mann empfing uns freundlich und zupackend und ließ uns in der Vereinsküche übernachten. Nachts krauchte sein Nachbar, ein ehemaliger Seemann, als Lebenskünstler durch das Gewitter, wortlos im Wetterleuchten, wie ein Gespenst. Wenn wir gewusst hätten, wie man auf einem Gasgrill vegetarisch grillt, hätte mich nachts der knurrende Magen nicht geweckt.
Der Sommer ist warm in Dänemark, und so brechen wir schon früh auf. Der Inriggerrhythmus: dreißig Minuten den Riemen rechts, dreißig Minuten den Riemen links, dreißig Minuten die Steuerleine, setzte Jochen aufs Steuer, als wir nach Gamborg einbiegen. Ein Abstecher nur, denn eine kajakenge Brücke verhindert die Umrundung der Schweineinsel. Auf der Karte ist ein einzelner, hoch aufragender Felsen eingetragen, unglücklicherweise knapp unter der Wasseroberfläche, dass man ihn nicht erkennen kann, was Jochen verwirrt. Er versucht sich anhand der Karte an einer genauen Lokalisation des Hindernisses, doch wie sollte das möglich sein bei diesem groben Maßstab der Seekarte und der Weite der Wasserflächen, die eine genaue Abschätzung von Entfernung unmöglich macht. Rentner ankern ihre Motoryacht an einem Steg, auf den sie einen Campingtisch aufgestellt hatten, wo sie jetzt frühstückten. Auf der Höhe zerstörte ein Traktor tuckernd die Stille und zog eine lange Staubwolke hinter sich her. Zurück auf unsere ursprünglich geplante Route.
Zur Linken wieder Fänö, die Privatinsel der dänischen Reichen und Schönen, zur Rechten unsere Mittagsrast Mittelfart. Vom Yachthafen ist es noch ein Kilometer ins Stadtzentrum. Wir wollen zum Stadthafen auf der anderen Seite, insgesamt sechs Kilometer. Schloss Hindsgavl wurde die Sicht in dem dichten Waldpark freigeschlagen, ein historischer Dampfer schnaubte an einer barocken Erdschanze zur Verteidigung des Kleinen Beltes vorbei, umschwärmt von Motoryachten aus Plaste und Chrom. Wir wollen am Mittelfarter Ruderverein anlegen, doch das Boot einfach nur ein Stück den Strand hochzuschieben, davor warnt uns eindrücklich der Hauswart Er hat nicht mehr viele Zähne und mein Dänisch reicht kaum aus, seinen starken Dialekt zu verstehen: die Containerschiffe! Wann kommen die denn hier vorbei, ich dachte, die fahren alle über den Großen Belt? Auch Mittelfart wird von ihnen angefahren! Schließlich heben wir das Boot doch komplett aus der Wasserlinie hinaus.
Der Uferweg durch naturbelassenen Wald ist romantisch, genauso die Altstadt mit ihren blutrot gestrichenen Fachwerkhäusern. Eigentlich nur ein unbedeutendes Fischernest, doch dann kam die erwähnte Eisenbahnbrücke und Mittelfart wuchs. Vorher hatte das Städtchen vom Abschlachten der Schweinswale gelebt: die Tiere verwirren und den flachen Strand hinauftreiben, wo die Fischer mit Harpune und Schlagstock in Gummikleidung im Blut wateten. Im Kleinen Belt lebt die größte Population an Schweinswalen weltweit. Heute werden die Walgesänge für die Touristen vom Unterwassermikrophon hochtransferiert, und Safaris zu ihnen angeboten. Ich setzte mich auf eine Bank an der Uferpromenade und bald tauchten die Schweinswale auf. Sie kannten den Tidenkalender und zogen jetzt jagend langsam gegen den Strom herauf. Eine Mutter mit ihrem Kind tauchte auf, tauchte ab, tauchte auf. Ihre runde Schnauze folgte zu sehr dem Kindchenschema, als dass man sie töten konnte.
Wieder unter der Autobahnbrücke hindurch nach Strib. Hier hatte die Eisenbahn auf einem Trajekt das Meer überquert, bevor die Brücke kam. Jetzt war es nur noch ein Stadtteil von Mittelfart. Modular war hier eine Baracke immer größer geworden. Ein Seemann aus Strib hatte nicht die sechs Kilometer zum Ruderverein ins Stadtzentrum fahren wollen und seinen eigenen Ruderverein gegründet. Dänemarks Gemeinschafts- und Vereinssinn ist stark genug, dass solche Kleinstvereine gedeihen. Jochen wollte am liebsten hier gleich einziehen. Derweil prustete vom Steg ein Walross in den goldenen Wellen aus Meer und Sonnenuntergang. Das Walross hieß Holger. Zur anderen Richtung tauchte die illuminierte Autobahnbrücke aus der blauen Stunde auf.
Am nächsten Tag war schlechte Laune angesagt. Regen mischte sich mit Gewitter. Zwei rüstige alte Herren vom Striber Ruderverein waren von ihrer morgendlichen Rudertour zurückgekehrt. Jeden Morgen trafen sie sich für ein Stunde auf dem Wasser. Außer am Sonntag. Da mussten sie bei ihren Gattinnen sein. Jeden Morgen gab es nach dem Rudern ein Frühstück: Filterkaffee und Schnaps. Die Schnapsbecher im Bootshaus waren privat. Fehlte nur noch die Namensgravur. Das regnet jetzt den ganzen Tag, knurrte der eine. Nein, in einer Stunde ist es wieder trocken, brummelte der andere. Eine Stunde später konnten wir trocken losfahren. Der Striber Leuchtturm glänzte weiß im Sonnenlicht. Wenn dir in Dänemark das Wetter nicht gefällt.
Nach einer Stunde waren wir zurück in Friedericia. Die Stadt schirmte sich mit hohen Grasschanzen gegen die Ostsee ab. Das nutzte ihr nichts. Die Schleswig-Holsteiner hatten sich hier verschanzt, doch ohne Hilfe von außen, war ihr Neunundvierziger-Aufstand gegen die Dänen dem Misserfolg geweiht. Im Barock geplant, war sie eine Garnision mit Straßen im Schachbrettmuster. Wie sie allmählich den Hügel hinab zum Hafen fiel, war die Stadt großartig. Man schaut durch die Häuserschluchten und jäh erhebt sich im Hintergrund ein Ausschnitt der Hängebrücke, als wäre die Stadt ein San Franzisko en miniature. Warum wird diese Stadt in Reiseführern eigentlich wie unter fernerliefen geführt? Oder Kolding, die Stadt Arne Jacobsens? Der Erfinder der dänischen Architekturmoderne lebte in einer flachen Schuhschachtel, durchdesignt bis zur letzten Kuchengabel, doch seine Kinder hassten ihn dafür, denn sie hätten lieber in einem traditionellen, dänisch-hyggeligen Satteldachhaus gelebt.
André Gesche
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