Vorspann
André an Ulrich 18.01.2010:
„Du bist doch sicherlich bei der Lahnfahrt dabei. Die geht ja erst von Wetzlar los. Die Ruderstrecke geht aber von Marburg aus los. Das sind 47 km mehr. Hättest Du Lust, drei Tage vorher mit mir und ??? nach Marburg zu fahren, und die fehlende Strecke mitzurudern. Das ist allerdings eine Fahrt für Geistesgestörte (viele, aber kurze Umtragestrecken, Treidelstrecken, eine Mischung aus Unstrut und Neetze). Du wärst zwar nicht der Erstbezwinger, aber mehr als 20 Menschen haben diese Strecken noch nicht abgerudert.“
Fünf Monate später war es so weit.
Tag 1: Mittwoch, 09.06.2010
André und ich nehmen den Zug nach Marburg. Thomas Fink vom ARV Hanseat, der dritte im Bunde, stößt später am Abend zu uns.
Wir übernachten in der Bootshalle der Marburger Hochschulruderer. Kaum eingeschlafen, reißen uns Gewitterblitze hoch. Am frühen Donnerstagmorgen, es ist noch dunkel, kapituliert eine Baustelle auf der Straße über uns: Sielbauarbeiten werden da durchgeführt, und der Wasserrdruck sprengt das Rohr. Ein Sonder-Eingreiftrupp Straßenbauarbeiter stoppt das Leck; wir werden nicht überflutet, sondern nur vom Lärm der Baumaschinen aus dem Schlaf gerissen – bis auf André, der schläft den Schlaf eines Babys.
Tag 2: Donnerstag, 10.06.2010
Nach dem Frühstück – es ist gar nicht so leicht, am frühen Morgen ein offenes Café zu finden (ach ja, wir befinden uns in einer Universitätsstadt) – klart es auf und wir starten zur ersten Ruderetappe nach Gießen: 34,5 Kilometer und 7 Umtragestellen stehen auf dem Programm. Die erste Umtragestelle haben wir direkt vor der Haustür, wir fahren nur einmal zum gegenüberliegenden Ufer, wo wir das Boot aus dem Wasser tragen müssen und um ein Wehr herum. Zwei Kilometer weiter, noch in Marburg, kündigt erneut ein Rauschen das zweite Wehr an. Wir nehmen wieder das Boot aus dem Wasser, tragen es ein paar Meter über die Uferpromenade bis zur Einsetzstelle, die sich als Hohlweg in der Breite einer Rolltreppe erweist mit schulterhoher Böschung links und rechts. Also Gepäck aus dem Boot, das Boot hoch über den Kopf nehmen und wieder einsetzen.
Dann, wir sind schon aus der Stadt raus, holen wir eine Gruppe von Schülern in Canadiern ein, mit denen wir die Wehre gleichzeitig umtragen. Auf dem Wasser sind wir schneller als die Paddler, aber beim Umtragen sind diese flinker: Sie können ihre Plastikschüsseln einfach durch das Gras und über die Trampelpfade ziehen, während wir unser Boot tragen müssen.
Beim Umtragen ist das Aussetzen ist noch der einfachste Teil: Kurz hinter die Aussetzstelle fahren, wenden um gegen die Strömung ans Ufer zu fahren, nass aussteigen und das Boot aufs Land hieven. Das Tragen bis zur Einsetzstelle unterhalb der Wehre ist einfach nur körperlich anstrengend, selbst nur fünfzig Meter lassen den Schweiß fließen. Am schwierigsten ist das Einsetzen, meist folgen wir den Paddlern, die gleich nach dem Wehr wieder ins Wasser gehen, wo die Strömung noch heftig ist wie in einem Gebirgsbach. Thomas mit seiner doppelt so langen Erfahrung als Wasserwanderer wie wir beide zusammen übernimmt hier den Obmann, bestimmt wie wir das Boot ins Wasser legen, in welcher Reihenfolge wir das Boot besteigen und wie abgestoßen wird. Meist beruhigt sich das Wasser nach den ersten fünf, sechs Ruderschlägen und vor unseren Augen zeigt sich eine zweite Lichtung im Ufergestrüpp, wo wir das Boot ohne Nervenkitzel und Hektik ins Wasser hätten einsetzen können, wenn wir uns an Land beim Umtragen genauer umgeschaut hätten.
Tag 3: Freitag, 11.06.2010
In der Nacht hat es wieder gewittert. Folge: Der Fluß tritt über die Ufer, das Befahren ist damit wasserpolizeilich verboten. Wir halten uns dran, auch wenn der Pegel nur zwei Zentimeter höher steht als erlaubt.
Tag 4: Samstag, 12.06.2010
Wir machen uns auf den Weg von Gießen nach Wetzlar, 19 km. Auf dem Plan stehen eine Umtragestelle, vier Treidelstellen und zwei Schleusungen. Umtragen können wir mittlerweile, jetzt lernen wir das Treideln: Die Treidelstellen sind Wehre mit einer Bootsgasse. An eine Bootsgasse fährt man an einen Steg heran, steigt aus und schiebt das Boot auf der Bootsgasse bis zur Steigung, die es dann von selbst nach unten nimmt. Unten gibt es wieder einen Steg zum Einsteigen ins Boot, sofern man das noch bei sich hat, weil an der Leine behalten. Ich kannte solche Bootsgassen, wie ich glaubte, aus dem letzten Jahr von der Schwentine bei Kiel, hatte aber die Rechnung ohne die Strömung gemacht: Ich hatte beim Aussteigen aus dem Boot zwar brav die Leine mit an den Steg genommen, diese dann aber zu lang gelassen, so dass das Boot, als es abwärts schoss, mich beinahe mit ins Wasser riss.
Heute kommt uns das Hochwasser zur Hilfe: Das Wehr Gießen-3, wo wir hätten treideln sollen, ist weder zu hören noch zu sehen. Wir fahren einfach unter der Kette durch, an der die beiden Hinweisschilder „Wehr“ und „Bootsgasse“ hängen, überbügeln das Wehr sozusagen, den Kopf eingezogen und die Ohren gespitzt, ob wir nicht doch Grundberührung bekommen.
Tag 5: Sonntag, 13.06.2010
Tausch der Mannschaften und der Boote. Wir lassen Thomas, der zurück nach Hamburg muss, und unser Boot, die „Eisvogel“ vom Marburger Ruderverein, in Wetzlar zurück. Rüdiger zieht mit sechs Leuten und drei Booten ein, die Besetzung wechselt in den nächsten Tagen kaum: Katrin, Stefan II und Torsten fahren in unserem „Thor“, Lennart, André und Rüdiger in der „Ostara“, Jörg, Reinhard und ich in „Cäsar“, dem uns von der Lühesandfahrt 2008 bekannten Boot des ARV Hanseat.
Tag 6: Montag, 14.06.2010
Erste Aufgabe für heute:
Passieren des Schiffstunnels Weilburg. Das Bauwerk, das eine Lahnschleife abkürzt ist, 1844-1847 erbaut, ein einmaliges technisches Bauwerk, 200 Meter lang, am Ende mit einer Doppelschleuse versehen.
Damit man sich nicht mit die Lahn hinauf fahrenden Booten in die Quere kommt, wird empfohlen, das zuvor jemand über den Berg kraxelt und nachsieht, ob das Wasser frei ist. Wir hatten Glück und trafen in Weilburg zwei andere Hamburger Boote vom Hamburger und Germania Ruder Club, die mit uns den Kanal passieren wollten: Fahrtenleiter von ihnen war Jürgen Warner, der aus Weilburg stammt, aber jetzt in Hamburg Vorsitzender des AAC/NRB ist (Allgemeiner Alster-Club / Norddeutscher Ruderer-Bund). So kamen wir denn zu der Ehre, vom Vorsitzenden des Dachverbandes der Hamburger Ruderer geschleust zu werden. Das Rätsel um unseren Schleusenknecht enthüllte sich mir erst später, zunächst genoss ich das Erlebnis der Tunnel- und Schleusendurchfahrt ganz unbedarft wie ein staunender kleiner Junge.
Letzte Aufgabe für heute:
Parkieren beim Eisenbahnsportverein Blau Weiss Limburg in Runkel zwecks Übernachtung dortselbst.
Der Steg eine steinerne Treppe, ganz annehmbar. Wir hofften, die Boote im Wasser liegen lassen zu können, weil der einzige Weg vom Steg auf die Wiese vom Campingplatz ein Mannloch war, das die Eisenbahn unterführt. Nachdem ich aber aufrecht gehend da durchpasste, entschlossen wir uns, auch die Boote da durchzuschleppen, angekippt im rechten Winkel. Am nächsten Morgen sahen wir, dass wir gut daran getan hatten: Der Wasserspiegel der Lahn war um zwanzig Zentimeter gesunken; wären die Boote im Wasser geblieben, hätten sich mit ihren Auslagern ineinander verhakt und wären gekentert, sobald das erste Boot trocken gefallen wäre.
Tag 7: Dienstag, 15.06.2010
Nur 13,5 km mit zwei Schleusen stehen auf dem Programm – halb so viel wie sonst. So nutzen wir den Vormittag für eine ausführliche Besteigung der Burg Runkel mit anschließendem Eisessen.
Mit etwas gemischten Gefühlen geht es dann in die Schleuse Runkel. Wie wir von der Brücke aus sehen konnten, ist die Ausfahrt hinter der Schleuse extrem kurz, so dass wir gleich von der Strömung des Wehrs erfasst werden und gegen das Steuerbord-Ufer gedrückt werden. Hart nach Backbord auszuweichen ist auch nur begrenzt möglich, da dort der Brückenpfeiler in der Flußmitte steht. Zwei Boote kommen glatt durch, das dritte kriegt Backbord einen Kratzer ab.
Tag 8: Mittwoch, 16.06.2010
Unser Fahrtenleiter hat in Limburg einen Ruhetag für Besichtigungen und Wäschewaschen vorgesehen.
Fünf von uns machen eine Besichtigung von Dietkirchen, drei Kilometer vor Limburg gelegen, mit dem Boot. Die mächtige auf einem Felsen thronende St. Lubentiuskirche war uns schon gestern auf der Hinfahrt aufgefallen.
Tag 9: Donnerstag, 17.06.2010
Kleiner Mannschaftswechsel: Lennart geht, Wolf kommt.
Ab Limburg sind die Schleusen lahnabwärts mit Personal besetzt. Bislang hatten wir immer selbst gekurbelt: Erst die beiden Handräder drehen, um die Schütze zu öffnen, dann die beiden Schleusentore mit einem Gangspill. Boote rein, Tore zu, Schütze zu. Zum unteren Tor laufen, Schütze auf, Wasser aus der Schleuse fließen lassen. Tore auf, Boote raus, Tore wieder zu und Schütze Obertor auf für die Nachrücker. Schleusenknecht (sinnvoller Weise ist das der Steuermann) einsteigen lassen und weiter geht´s.
Gestartet waren wir bei Regen, auf halbem Wege zu unserem Tagesziel Laurenburg suchten wir einen Imbiß auf, um uns zu stärken. Wieder auf dem Wasser, hörte der Regen auf, der Fluß dampfte, dichter Nebel zog durch die tannenbestandenen Waldesrücken. Einfach genial, göttlich das Erleben.
Tag 10: Freitag, 18.06.2010
Von Laurenburg geht es nach Bad Ems, die Stadt, die durch die Emser Depesche berühmt ist, dem Zündfunken, der den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 auslöste. Soviel war mir noch aus dem Geschichtsunterricht in der Schule gewärtig.
Hier war aber auch ein paar Jahrhunderte zuvor der Limes verlaufen, den die Römer nach der Eroberung Galliens als Grenzwall gegen die Germanen errichtet hatten.
Tag 11: Samstag., 19.06.2010
Letzte Ruderetappe von Bad Ems nach Lahnstein. Wir legen nicht gleich dort an, sondern fahren bis zur Mündung des Lahn in den Rhein.
Wir wollen bergauf ein paar hundert Meter rudern, um zu Hause erzählen zu können, wir hätten den Rhein befahren. Die Naturgewalt in Form der starken Strömung macht uns einen Strich durch die Rechnung: Eine Boje schaffen wir es zu umrunden, das geschieht wie in Zeitlupe.
Tag 12: Sonntag, 20.06.2010
Abreise: Die Boote hatten wir schon gestern abgeriggert und auf den Hänger verladen. Nach 500+ km sind wir in Hamburg, laden unsere beiden Boote in unserem Verein ab, riggern sie auf. Dann bringen wir noch den „Cäsar“ zum ARV Hanseat zurück. Ende Gelände.
Ulrich Rothe
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