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Ruhrfahrt

23. Juli bis 1. August 2016

   

Autoleihe, Einkäufe, Hängerabholung, Aufladen am Elbdeich waren erledigt. Jörg fuhr mit André, Dieter und mir los, zeigte uns von der Autobahn Industrie und Bauten seiner Ahlener Heimat. Friedrich sammelten wir auf der Party des Kanuvereins Schwerte [Flußkilometer 107] ein, die uns später nicht schlafen ließ. Jörg und ich brachten das Auto noch nach Homberg am Rhein, besuchten dort seinen Freund Ludger, einen lebenslustigen, kritischen und sozial engagierten katholischen Pfarrer. Wolfram, drei Leben gleichzeitig führend - als freischaffender Architekt, Vater und Ruderurlauber -, komplettierte uns am Sonntagmorgen. Sonnengecremt ging's in Sigyn und Frigga los zwischen letzten Sandbänken auf der flachen, schnellen Ruhr.

"Die mitunter schnell strömende Ruhr fließt durch eine idyllische, wald- und wiesenreiche Mittelgebirgslandschaft zwischen dem Sauerland im Süden und dem Ardey im Norden, wie man sie im Ruhrpott nicht vermutet", kündigte André wohlklingend den Flußverlauf an. An der Ruhr ist vieles zudem menschengemacht: 16 Schleusen, hunderte Buhnen und einen Leinpfad (heute Radweg) machten die Ruhr ab 1780 bis oberhalb von Schwerte durchgängig schiffbar. Ab 1816 wurde Steinkohle an der Ruhr zu Koks verarbeitet, konnte so gelagert und transportiert werden. Der Einsatz einer dampfgetriebenen Wasserhaltungsanlage der Firma Harkort aus Wetter ermöglichte ab 1832 in der Zeche Nachtigall den Tiefbau in unter dem Grundwasserspiegel gelegenen Kohleflözen. Um 1850 endeten mit dem Bau der Eisenbahn zum Abtransport der rasant gesteigerten Kohleförderung die zweieinhalb Jahrzehnte lebhafter Ruhrschiffahrt schon wieder. In der Weimarer Republik wurden zur Versorgung der Bevölkerung des Ruhrgebiets mit sauberem Wasser fünf große Stauseen geplant und teils gebaut, die der Ruhr ihr heutiges Gepräge gaben. Im flachen Wasser filtern dort Pflanzenteppiche durch ihr Wachstum Nähr- und Schadstoffe aus. Aus der durch Aufstauung verlangsamten Ruhr sedimentieren die Schwebstoffe; das Wasser klart auf. Hinter den Stauseen beginnt die Ruhr wie ein kleiner wilder Fluß im Oberlauf, mit Kabbelwasser, Stromschnellen und einer vielfältigen Pflanzen- und Tierwelt. Die wenigsten Schleusen sind noch in Betrieb. Wir mußten also oft umtragen und wassertaugliches Schuhwerk war hilfreich.

Die erste Etappe von Schwerte nach Herdecke führte durch eine flache, eiszeitlich geprägte Landschaft. Über dem Fluß tummeln sich unschuldig wunderschöne Libellen. Am Wasserkraftwerk Westhofen [96] machten wir unsere erste Erfahrung mit dem Umtragen: Jeder Sack, jede Tasche, jede Abdeckung, jedes Ruder, jede Trinkflasche, alles, alles, alles mußte an Land ausgeladen werden, ins Boot auf dem Wagen eingeladen, geschoben, wieder ausgeladen und zuletzt erneut ins schwimmende Boot eingeladen werden. Im weiteren Tourverlauf brachte "Packmeister" Jörg seine Passion für Logistik noch unzählige Male verdienstvoll zur Geltung.

Der Flußlauf folgt an Wasserkraftwerken (wo ehemals deren Vorgänger, die Mühlen, standen) einer einheitlichen Systematik. Der Fluß wird dort in zwei Arme um eine Mühlinsel aufgeteilt. Auf der einen Seite wird mit einem Wehr der aufgestaute Wasserstand reguliert und auf der anderen Seite treibt das durchströmende Wasser eine "Mühle" (heute ein Wasserkraftwerk) an, bevor es im sogenannten Mühlkanal weiterfließt. Manches Mal geht's beim Umtragen an Land auf dem Werksgelände lang, das andere Mal über eine idyllische Insel, häufig Naturschutzgebiet, das sonst von niemandem betreten werden kann.

Kurz vor dem Autobahnbrücke der A1 tauchten wir das erste Mal richtig ins Ruhrgebiet ein. Wir passierten einen Campingplatz [95] mit Badestation, an der "der Pott" seine Freizeit mit Kind und Kegel, Luftreifen und Luftmatratzen, Grill und (Sonnen-)Baden verbrachte. Auf einem Eiland im Hengsteysee [94-90] lagerten wir zu Mittag. Friedrich, dem die Schlingpflanzen nicht sonderlich imponierten, nutzte die Zeit zum Baden und wir kraxelten zur Hohensyburg hoch. Die Aussicht war super. Ein pensionierter Lehrer trug uns Geologie und tourismuswirtschaftliche Potentiale der Region vor. Abgerockt und verschwitzt suchten wir die Toiletten der nahegelegene schnieken Spielbank auf. Am Seeausgang [90] begrüßte uns ein perfekter, neuer Ruderanleger mit Tunnelumtrage. Kurz darauf folgte schon die Umtrage über die Mühlinsel der Stiftsmühle Herdecke [89] mit steilen Betontreppen und Modderwasser. Ein paar Schlag weiter liegt der Ruderclub "Westfalen" Herdecke [88]. Weltumsegler Dieter - der uns täglich auf der Mundharmonika freundlich weckte - bekochte uns abends lecker. Die meisten vergnügten sich noch im Biergarten des nahegelegenen Hotels. Wolfram bekam Besuch von seiner Familie und erkundete den Ort.

Der nächste Vormittag begann in langgezogenem Bogen über den Harkortsee [84-87], an dessen Ende wir in Wetter [84] anlegten. Ein freundlicher Ruderkollege gesetzten Alters legte gerade einen Einer ins Wasser und klagte, daß leider die aktiven Mitglieder ausblieben. Durch die umkämpften und schließlich restaurierten mittelalterlichen Fachwerkhäuser "Freiheit Alt-Wetter" ging's am Harkortturm vorbei zum Ausblick von der Burg auf den zurückliegenden Stausee.

Die nun folgende Umtrage führte über eine Mühlinsel neben einer idealtypisch angelegten Fischtreppe entlang über einen kieseligen Sandweg - lieber mit Schuhen! Hier begegneten uns die ersten Leihkanufahrer, die sichtlich neidisch unseren Bootswagen beäugten, während sie ihre Plastikwanne trugen. Es folgt eine landschaftlich sehr schöne Strecke durch einen Mittelgebirgszug. Der Fluß hatte erkennbar Mühe, sich im Laufe der Jahrtausende durch das harte Gestein zu schleifen. Kurz hinter Wetter folgten daher zwei Untiefen mit Kabbelwasser [80,7 und 81,7].

In Witten angekommen, übernahm sich Friedrich wohl leider im Einer, als er nochmal zu den Stromschnellen hochfuhr und konnte fortan wegen Knieschmerzen nur noch steuern. André gab Maxi, Wolframs älterem Sohn, Ruderstunden. Moritz, der jüngere, fiel ins Wasser und mußte neu eingekleidet werden. Im proletarischen Ruderverein Bochum [75] fanden wir eine super ausgestattete Küche vor und genossen am Abend leckeres Putengeschnetzeltes. Der auf der Mühlinsel günstiger gelegene Ruderclub Witten [74] hatte uns zum Glück nicht aufgenommen.

Nach der morgentlichen Umtrage beim RC Witten vertäuten wir unterhalb der Zeche Nachtigall [72]. Ihre Besichtigung bildete den inhaltlichen Auftakt zur Industriekulturtour. Das Museum informiert umfangreich über die Entstehung der Steinkohleflöze des Ruhrgebiets und welche Bodenschätze in welchen Alltagsprodukten Verwendung finden. Eine weitere Ausstellung zeigt wie Bergwerksstollen abgeteuft (gegen Wassereinbruch und Steinschlag gesichert in die Erde gegraben) und gewettert (belüftet) wurden. Highlight des Museumsrundgangs war die Stollenführung. Ein ehemaliger Bergmann veranschaulichte uns dort die miesen Arbeitsbedingungen unter Tage, Wind, Feuchtigkeit, Dunkelheit, das ständig flackernde Licht der Grubenlampen, den Mangel an Hygiene und immer wieder einbrechende Stollen, wenn für Profite am Material gespart wurde. So wurden die Bergmänner in der Zeche Nachtigall im Schnitt nur 35 Jahre alt. Unter unendlich harter Arbeit entstanden die großen Industrien des Ruhrgebiets, die Infrastruktur (nicht nur der Region) und auch die moderne Gesellschaft, wuchsen verschlafene, von der Außenwelt isolierte Dörfer innerhalb weniger Jahrzehnte zu einer großen städtischen Ansammlung von Millionen Menschen zusammen. Offen blieb, wie sich unter diesen Bedingungen Menschen organisierten und bildeten, um ihre Lebensbedingungen solidarisch zu verbessern. Davon handelt bspw. der Film "Germinal".

Der Kemnader See [67-64] wurde erst 1979 als Naherholungsgebiet für die Ruhruni fertiggestellt. An seinem Ende konnten wir erstmalig unsere Boote durch eine Bootsgasse [64] treideln. Eine feine Sache, die einem das ganze Ein- und Ausladen erspart. Die für über eine Million Euro neu errichtete Schleuse in Blankenstein [62] wurde hingegen samt perfektem, neuem Rudersteg nach dem Fund von Libellenlarven eingemottet. Wir mußten deshalb in ein verdrecktes Sumpfloch einlaufen, an dessen Rändern sich "Giants" (Riesenbärenklau) breitmachten, zwei, drei Meter hohe, hochgradig phototoxische Pflanzen. Friedrich watete durch den Sumpf, um unsere Boote aus dem Loch ("Anleger") ziehen zu können. Flußabwärts folgen nun recht bald zwei Untiefen [61,1 und 61,3] mit Kabbelwasser und Stromschnellen, dann ging's gemächlich weiter bis nach Hattingen. Der Ruderverein [57] liegt dort auf einem kleinen Berg.

Da wohl jeder Ruhr-Ruderverein schon Boote in der Hattinger Rutsche verloren hat, entschieden wir zu treideln. Unten angekommen, sahen wir auch einige gerutschte Ruhrtouristen im Kanu kentern. Auf Höhe von Isenburg [54] gibt es einen wunderschönen Schwall über einer harten Felsformation am Grund der Ruhr. Es ist ein lustiges Gefühl über den Schwall runterzugleiten. Ansonsten ist der Teil der Tour nochmal etwas dröge ländlich - und das mitten im Ruhrgebiet. Vom Hafen in Linden-Dahlhausen [50] ging's in Eisenbahnmuseum. Neben vielen alten und ganz alten Wagen und zum bersten gefüllten Lokschuppen gab's dort viel Eisenbahnromantik und eine kleine Museumsbahn. Die drei Treidelgassen Dahlhausen [50], Steele-Horst [48] und Steele [43] waren eine große Erleichterung. Der Ruderverein in Kupferdreh [37] war etwas chaotisch, niemand hatte sich um uns gekümmert. Letztlich verhalf uns ein Hattinger Ruderfreund zu einem Schlüssel für Dusche und Matratzenlager in Fitnessraum und Bootsgarage.

Am nächsten Morgen ging's weiter über den Baldeneysee [36-29] an Regattastecke und einer Wasserpflanzenerntemaschine vorbei. Oberhalb liegt die Villa Hügel, das riesige Anwesen, von dem aus Krupp sein Industrieimperium regierte und "Weltpolitik" (= zwei Weltkriege) machte. Die Umtrage am Seeende [29] führte steil durch das Kraftwerksgebäude hindurch. Nun merkte man der Ruhr ihren Ausbau zur großzügigen Landesschiffahrtsstraße an. In Kettwig [22] mußten wir nochmal umtragen, man hatte ja inzwischen Übung. Das Mäuerchen beim Einsetzen war gelinde gesagt suboptimal zum Einsteigen. In Mühlheim [14] gab's die Möglichkeit zum Besuch im Museum Haus Ruhrnatur und abends zur Abwechslung selbstgekochtes leckeres Ratatouille.

Der letzte Tag auf der Ruhr begann mit unserer ersten und einzigen Schleusung in Mühlheim-Kahlenberg [13] und kurz danach dem einzigen, durchaus heftigen Regen. Die Tour hatte hochsommerlich heiß begonnen und verlief wolkig wohlig warm. Wir hatten also richtig Glück mit dem Wetter, während in Hamburg die Keller absoffen. Unser Versuch beim Mühlheimer Wasserwerk [10] anzulegen, um das Museum Aquarius zu besichtigen, wurde von bestimmt auftretenden Wasserwerkern unterbunden. Also ging's weiter durch den Nordhafen, vorbei an der riesigen Verladebrücke von Siemens, an der eine ganze Kraftwerksturbine im Stück verladen wurde. Leider wollte uns die Schleuse Raffelberg [8] nicht zusammen mit einem Binnenschiff schleusen, so daß wir umtragen mußten. Die letzte und schwierige Umtrage an der Schleuse Duisburg [3] kurz vorm Rhein nutzten wir gleich noch für einen kleinen Boxenstopp am Imbiß im Gewerbegebiet. Gestärkt ging's dann vorbei an der Landmarke "Ruhrorange" [Ruhr 0/Rhein 780] einen Kilometer Rheinabwärts nach Homberg [781] auf die linke Rheinseite. In einem alten Eisenbahntrajekt beherbergte uns dort der Homberger Ruderclub für die nächsten drei Nächte. Darüber gelegen ist die schnuckelige Café-Kneipe R(h)einblick.

Den Freitagabend verbrachten einige dann im Landschaftspark Duisburg-Nord rund um das stillgelegte Hüttenwerk in Duisburg-Meiderich. Man mußte schon schwindelfrei sein, um den Ausblick vom Hochofen genießen zu können. Die Stahlproduktion wurde an diesem Ort nach 84 Jahren in der Stahlkrise Mitte der 1980er Jahre eingestellt. Abends werden die Industriedenkmäler ästhetisierend bunt angeleuchtet und bilden einen im Sommer gut besuchten und frei zugänglichen Ausflugsort für Nachtschwärmer und Fotografen. Wolfram wollte am Samstag nochmals hin, um mit seinen Söhnen dort ins Open-Air-Kino zu gehen.

Die gute Seele des Homberger Ruderclubs, Harald, ermöglichte uns am Samstag eine Rheinfahrt bis nach Wesel [816] mit anschließender Abholung und Rücktransport von Mannschaft und Booten. So konnten wir die Ruhrtour mit einer Fahrt abrunden, die uns vorbeiführte an den zwei riesigen Roheisen-Hochöfen samt dampfender Kokerei in Duisburg-Marxloh [790] und dem gigantischen Steinkohlekraftwerk Voerde [799] am Rhein, um uns dann mit einer Badepause zwischen Buhnen in einer Rheinaue in die ländliche norddeutsche Tiefebene zu entlassen.

Jochen


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